Im 1. Teil ihres Vortrages am Staatlichen Bauamt Kempten erläuterte Frau M. Eng, Dipl.-Ing. (FH) Julia Klumpp ihre Position zum Bauen im städtischen Kontext ...
„similia similibus curentur“!
hat der deutsche Arzt Samuel Hahnemann gegen Ende des 18. Jahrhunderts ausgerufen und er begründete damit den Leitsatz der Homöopathie. Als scharfzüngiger Kritiker der zeitgenössischen Medizin trat er auf und versuchte die damals gängigen brachialen Heilmethoden zu verhindern, wie zum Beispiel Aderlass, Brech- und Abführkuren oder sogenannte Drastika. Seiner Ansicht nach wurden durch derart gewaltsame Eingriffe die schwachen Kranken zusätzlich geschwächt und – so Hahnemann – durch die Hinzufügung neuer, zerstörender Elemente wurden Systeme, wo nicht tödlich, doch zumindest unheilbar getroffen.
"similia similibus curentur“ : „Ähnliches möge mit Ähnlichem geheilt werden“ forderte Hahnemann von der Medizin und verfolgte das Ziel, zu einer milden und individualisierten Behandlung zu kommen, die ohne gewaltsame Eingriffe in Heilung enden kann…
„Ähnliches wird durch Ähnliches behandelt und nicht Gegensätze durch Gegensätze !“…schöner könnte man einen Wunschsatz für modernen Städtebau und Architektur heute nicht formulieren, denn homöopathisch und hochverdünnt behandeln ist nichts anderes als „Bauen im Kontext“ und zu oft wird dieser sensible Umgang mit dem Umfeld einer Lust nach Schnelligkeit und Abwechslung geopfert. Nicht nur der deutsche Architekturtheoretiker Vittorio Lampugniani beklagte nämlich 2003 in der Stuttgarter Zeitung die wenig umsichtige Haltung architektonischer Eingriffe im stadträumlichen Zusammenhang:
„Ganz besonders schlimm ist es aber“ - so Lampugniani- „….nicht nur unsere Ohren, auch unsere Augen werden pausenlos mit übertriebenen Reizen bombardiert. Heraus kommt ein gigantisches visuelles Geschnatter, eine belästigende und die Augen blendende Kakophonie.... Um auf sich aufmerksam zu machen ist es, so glaubt man, unvermeidlich, sich unverwechselbar, verblüffend und ungewöhnlich darzustellen. Kurz: es erscheint unumgänglich, Lärm zu schlagen.
Angestachelt von der Konkurrenz (der Architekten) nimmt der Entwurf eine immer radauhaftere Haltung an und so verstärken sich laufend und immer zerstörerischer die visuellen Bombardements.“
Ganz anders machte es Gottfried Böhm in den 60er Jahren, als er behutsam und sensibel (wie zufälligerweise auch sein Gemüt ist) den Neubau eines Rathauses in Bensberg in ein fragiles mittelalterliches Umfeld implantierte. Der verschmelzende Zusammengang mit dem öffentlichen Raum und seinen bedeutsamen Rändern ist bis heute vorbildlich weil nämlich jedes Bauen Teil eines öffentlichen Raums ist und dieser in den meisten Fällen gewachsen ist und seine Geschichte hat.
In der Verpflichtung der Architekten liegt es nämlich, aber auch der Bauherrschaften – mit dieser Geschichte behutsam umzugehen , Häuser als städtebauliche Bausteine zu begreifen und Bezüge zum Bestand herzustellen.
„Ähnliches wird durch Ähnliches“ behandelt… ganz im Sinne der Homöopathie könnten wir bauen…wobei das Hinzufügen von Neuem eben nur in hochverdünnter Dosierung verabreicht werden könnte! Wenn wir „hochverdünnt“ bauen schaffen wir viel „Normalität“,wie es der deutsche Architekt Heinrich Tessenow Anfang des 20. Jahrhunderts nannte: „Grau ist die selbstverständlichste Farbe der Stadt“ sagte er und meinte als Vertreter des einfachen Bauens damit, daß „unsere Städte viel Normalität brauchen! Stille Formen und stille Farben!“ Diese hatten für Tessenow etwas Städtisches und Gemeinschaftliches, etwas, das nicht auseinanderreißt, nicht trennt, sondern zusammenführt..... „Je mehr wir das Städtische lieben“, so Tessenow, „sind wir im Kontext dazu verpflichtet, bekannte Formen zu verwenden und uns neutral einzufügen!“…
similia similibus…?
Nicht nur Heinrich Tessenow vertrat vehement diese Haltung des sanften Einfügens...sondern auch in der Schweiz wurde verstärkt seit den 80er Jahren durch die Architektengruppierung der sogenannten „Analogen“ unter dem schweizer Architekten Miroslav Sik die Idee vertreten, daß ein Entwurf hauptsächlich durch seinen Ort bestimmt wird. Konsequent nahmen sie mit ihren Entwürfen Bezüge zur Geschichte eines Ortes auf, bauten analog zu ihrem Umfeld, und prägten Begriffe wie „Altneu“ und „Weiterbauen“. Inzwischen ist diese feine, schweizerische „Zurückhaltung“ des neuen Bauens in gewachsenem Kontext auch in Deutschland angekommen und wird von vielen Kollegen vertreten (oder versucht) und sogar im sogenannten „Tal der Architekten“ durfte der Stuttgarter Architekt Arno Lederer kürzlich öffentlich sagen:
„Zuerst kommt die Stadt...dann das Haus“.
Das hört sich einfach an! …und weil es nicht so einfach ist, wie es sich anhört gibt es für die kontextbezogene Architektur einige wiederkehrende Leitideen, deren Beachtung hilfreich sein kann, um vorhandene Eigenarten und Qualitäten des Umfelds fortschreiben bzw. ergänzen zu können.
Erstes Leitbild: Fortführen einer vorhandenen Stadttypologie
Wie die meisten mittelgroßen Städte hat auch die Stadt Saintes an der Westküste Frankreichs in den frühen 90er Jahren unter dem Wachstum der Peripherie gelitten, während das Stadtzentrum verfiel und verwaiste. Für eine Nachverdichtung der Innenstadt wurden die geschlossenen Blockrandbebauungen der Quartiere mit 3-geschossigen Stadthäusern wieder rundum geschlossen und ergänzt, die gewachsene längliche Parzellierung der Hinterhöfe wurde wiederhergestellt, sensibel im Kontext mit Wohnhäusern bebaut und die historischen kleinen Gassen, die mehrfach quer durch den Block führten wurden von der Stadt in aufwendigen Verfahren wieder zurückgekauft und als Erschließung der Hinterhäuser sinnfällig wiederhergestellt. Dieses Projekt einer Restrukturierung und Nachverdichtung schaffte mit hohem Planungsaufwand und Engagement ein Musterbeispiel für ein organisches (homöopathisches?) Fortschreiben eines Stadtgrundrisses.
Zweites Leitbild : Fortführen einer vorhandenen Fassaden- und Gebäudetypologie
Der Neubau des schweizer Mädchenwohnheims vom Graubündner Architekten Caminada wurde am Fuße des Klosters Disentis gebaut. Ein einfacher, massiver Baukörper vermittelt zwischen der Maßstäblichkeit des Klosters und der Maßstäblichkeit der Stadthäuser. Seine Fassaden sind als Lochfassaden in den Ort eingefügt und zeigen auf diese Weise sowohl ihre Zugehörigkeit zum Kloster, als auch zur Stadt. Als neues und moderenes Volumen spielt das Gebäude trotzdem die alten Regeln mit, wie auch das kleine Wohn- und Geschäftshaus in einer Seitenstraße der Memminger Altstadt. Die Entwurfsverfasser (SOHO) haben die markanten Merkmale der Fassadentypologien integriert und bieten eine Essenz des vorgefundenen Umfelds an. Trotz absoluter Reduktion dieser Gestaltungsmerkmale findet man sowohl die am Ort vorhandenen Geschossversprünge, die am Ort vorhandene Typologie der Lochfassade und eine Mischform der am Ort vorhandenen Dachformen wieder. Trotz einer modernen Architekturhaltung zitiert das Haus seine Nachbarn und schreibt somit die Geschichte dieser Stadt weiter.
Drittes Leitbild: Lokalkolorit
Der vorgenannte schweizer Architekt Miroslav Sik hatte an der ETH Zürich mit seinen analogen Theorieausführungen den Begriff des „Lokalkolorit“ geprägt. Er rief dazu auf, neben der städtebaulichen und fassadentypologischen Besonderheit eines Ortes eine lokale Eigenart und Atmosphäre zu suchen – wie ein lokaler, sprachlicher Dialekt, der sich in farblicher oder detailspezifischer Aussage transportieren liesse. Auch wenn, oder gerade weil dieser lokale Geruch etwas Alltägliches, ja sogar Banales (oder nach Heinrich Tessenow: etwas Normales) wiederspiegeln kann, gilt es, eben genau dieses zu transportieren. Diese Fortführung hält so die Verbindung zwischen dem neu Eingefügten zum Bestand und Geschichte.
Das verbindende Einfügen der Galerie am Kupfergraben auf der Museumsinsel in Berlin gelingt David Chipperfield Architekten unter anderem durch das Aufgreifen einer lokalen Farbgebung in neuer Materialität und Formensprache und die Schweizer …haben ihre Theorie zum „Weiterbauen“ in der Architektur bereits in Gesetzestexte übersetzt und haben zum Schutz ihrer alten Dörfer eine sinnfällige Satzung: Weicht ein altes Haus einem neuen, so muß dieses die gleiche Kontur und gleiches Volumen haben wie das alte. Damit bleiben Grundstruktur, Maßstab und räumliche Atmosphäre im urbanen Zusammenhang erhalten. Da das Raumprogramm für das Künstleratelier in Scharans viel kleiner war, als der Vorgängerbau, stellte der Architekt Valerio Olgiati eine teilweise leere Hülle, die jedoch exakt der Kubatur und Außenform des Vorgängerbaus entspricht. Die weitere Einbindung des Neubaus erklärt er über die rote, ausgewaschene Farbgebung des Sichtbetons, der mit seiner strukturierten Brettschalung den umgebenden, verwitterten Holzbauten nahekommt und deren unscharfe und dunkle Konturen nachspielt. Des Weiteren wurde beim Betonieren ein ortstypisches rundes Ornament in die Schalung eingelegt, welches man über Jahrhunderte in Holztruhen, Stühle und Deckenbalken einschnitzte und welches das prägende Markenzeichen des kleinen Dorfes war. Ein uralter ortsansässiger Holzschnitzer schnitzte über Monate diese Ornamente in die Sichtbetonschalung ein und legte mit seiner Arbeit eine beinahe poetische lokale Essenz bei.
Forum Lichtenstern, Sachsenheim
Kindertagesstätte, Stuttgart-Obertürkheim
Haus für Frau E., Aichtal
Firstwald-Gymnasium, Kusterdingen
Künstleratelier Scharans, Valerio Olgiati
Galerie am Kupfergraben Berlin, David Chipperfield
Wohn- und Geschäftshaus Memmingen, SOHO Architekten
Mädchenwohnheim Disentis, Gion Caminada
Rathaus Bensberg, Gottfried Böhm
Mörike Gymnasium, Göppingen