Zu neuer Blüte
randnotiz 36

Datum
10.04.2023

Der Bregenzerwald im Vergleich mit dem Allgäu


Auch ein Phänomen: „Vorarlberg: ein Land blühender Baukultur"; so der BDA. 40 Jahre zuvor haben junge Bauschaffende mit Bauherrschaft neues, an der Region orientiertes Bauen erprobt und in wenigen Jahren das Land zu einer führenden Europäischen Architekturregion gemacht - mehr bei Friedrich Achleitner.

Wie das? Dietmar Eberle antwortet: „Wir haben immer miteinander gesprochen. Und: Wir haben das Hauptquartier bombardiert." Dieses Diktum Maos zur Kulturrevolution ab 1966 beschreibt die Auseinandersetzung junger Aktiver, nicht nur Diplomarchitekten, mit der lokalen Kammer, die Bauen ohne Kammereintrag nicht duldete. Die Antwort: Wir sind Vorarlberger 'Baukünstler'; wozu einen Kammereintrag? Dass dies mehr als ein Scharmützel war, zeigt Eberles Antwort auf die Frage nach dem Unterschied zwischen Vorarlberg und dem Nachbarland Allgäu: „Dort gibt's die Anerbenregel, hier Erbteilung, also kleinteilige Wirtschaftsstruktur, wenig Vermögende, schlechte Bedingung für die verwaltete Welt." Das Land war eigensinnig, zurückgeblieben, schwarz; ganz besonders die ländlich geprägte Region Bregenzerwald, Grenzland zum Allgäu.

Dieser Nachbar von 5-facher Größe und 15-facher Bevölkerungszahl (einschließlich 10 Städte) ist dem Wald topografisch ähnlich. Berg, Wald und Grünland prägen das Bild; Milchprodukte und Holzerzeugnisse die Produktpalette. Während der Wald durch das Einzugsgebiet der Bregenzerache eindeutig definiert ist, sind die Grenzen des Allgäu seit je fließend. Erst die Gemeindereform 1973 legt im Allgäu fest: Ober-, Unter-, Ostallgäu; dazu der Landkreis Lindau und einige Württemberger Gemeinden.

Die Region ein Verwaltungsakt? Eberles Hinweis benennt Entscheidendes: Das Bauernland Allgäu ist geprägt durch Vereinödung, die Agrarreform des aufgeklärten Absolutismus. Entscheidend: Auflösung der Dorfgemeinschaft und Aussiedlung des Bauern inmitten eigener Flur. Fortan gilt: Grundbesitz wird zusammengehalten; es gibt nur einen Erben. So entstehen im 19. Jh. große Höfe auf Kosten kleiner Anwesen, befördert durch die Einführung der Milchwirtschaft um 1900. Herrenbauerntum und Paternalismus edeihen, umgekehrt geduckte Verschlossenheit, überwölbt durch verwaltende Obrigkeit. Man weiß was man hat und lässt sich nichts sagen.

Direkte Nachbarschaft, ähnliche Topografie, unterschiedliche Mentalität. Im Wald schlagen die Neuerer der 80erJahre bald Wurzeln, zumal nicht wenige der Protagonisten hierherkommen - Eberle, Dietrich, die Kaufmanns. Entscheidend aber: die Bauten der frühen Jahre sind aus Holz - preiswert, ökologisch, gut zum Selbstbau, trotz Nimbus Arme-Leute-Bauen. „Architekten und Handwerker sind sich hier immer auf Augenhöhe begegnet," weiß Hermann Kaufmann, der seine ersten Häuser für Handwerker baut. Das bewirkt ein Darwin'sches Paradoxon: Ressourcenknappheit bereichert, die Erneuerung des Holzbaus nimmt Fahrt auf, überregional werden Bregenzerwälderhäuser bekannt und heute gehört es dort zum guten Ton, mit einem Architekten zu bauen. Kein Wunder: dank knapp zwei Dutzend Wälder Architekturbüros kommen 1600 Bewohner auf ein Büro und jede der 24 Gemeinden auf einen Gestaltungsbeirat.

„Blühende Baukultur" knüpft an regional gebräuchliche Bauweise an; braucht aufgeschlossene Bauherrschaft; pflegt kollegialen Umgang unter Architekten und Begegnung mit Handwerkern ohne Standesdünkel. Doch reicht das? Bruno Spagola, Pionier der frühen Jahre mit Distanz, weist darauf hin, dass der ab Mitte der 1980er-Jahre in Aussicht genommene Beitritt Österreichs zur EU die Gemüter aufgewühlt hat: Wie soll sich das kleine Vorarlberg gegen die Großen im Norden behaupten? Das ergab eine politische Dynamik mit Offenheit für neue Ideen - ob bei 'Schwarz' oder 'Rot'. Leute wie Guntram Lins haben verstanden, dass Kulturpolitik bei einer Selbstbesinnung des Landes eine herausragende Rolle spielt. In dieser Zeit beispielsweise entscheiden sich Land und Stadt Bregenz mit dem Bau des KuB für einen Leuchtturm europäischer Kunstpolitik. Ähnliches im Wald: In den 90er-Jahren zieht die Schubertiade hierher, wird der werkraum-bregenzerwald gegründet. Der zeigt das Potenzial des Landes: in Eigeninitiative wird unternehmerische Selbständigkeit, Handwerkliche Tradition und Qualitätsbewusstsein zu innovativer Allianz verschmolzen; politische Unterstützung ist nun gewiss. Aus derselben Zeit und vergleichbar: die 'Käsestraße Bregenzerwald'. Die Milchbauern beantworten den Marktdruck mit Kooperation und Ausrichtung auf Qualität. In der größten silagefreien Region Europas wird Bergkäse hergestellt, der mittlerweile auf den Märkten Europäischer Metropolen zuhause ist.

Was für ein Unterschied zum Nachbarn! Auch im Allgäu: Grünland und Viehhaltung. Kempten mit eigener Käsebörse ist lange Metropole der Milchregion mit lokalen Dorfkäsereien als Rückgrat. Um 1970 ist Schluss damit. Die Landwirtschaftspolitik der EU fordert Anschluss an die Weltmärkte. Die Antwort des Allgäus: Konzentration, Effizienz, Industrialisierung - euphemistisch: landwirtschaftlicher Strukturwandel. Die Produktkultur im Vergleich: dort Klasse, hier Masse. Wie die Dorfkäsereien weichen zahlreiche Höfe. 'Wachsen oder Weichen' wird Parole der nächsten Jahrzehnte - von 1974 bis 2003 reduziert sich die Zahl der Milchkuhhalter im Allgäu um 55%, Tendenz seither steigend. „Es ist absehbar, dass 2040 nur noch 5% der Milchbauern von 1950 wirtschaften," so Emmerich Heilinger vom Milchwirtschaftlichen Verein Allgäu.

Wie still dieser Prozess vonstatten geht! Ökonomische Machtentfaltung als Schicksal; Achselzucken bei gelegentlichem Aufbegehren. Ausgleich bietet Industrieansiedlung im metallverarbeitenden, feinmechanischen, High-Tech Bereich. Die Region beheimatet nicht wenig 'hidden champions', man versteht sich als 'Mächler'. Dazu Tourismus. Bei politischen Projekten dominiert Infrastruktur - Verkehr, auch Hochschule Kempten - sowie Hochwasserschutz und Tourismus. Initiativ bleibt die paternalistische Verwaltung. Beispiel Allgäu GmbH, eine Agentur zur Inszenierung und Bewerbung des Landes. Per Dekret vom Landrat geboren, soll sie das Allgäu ins Bild setzen. Der Austausch mit den Gestaltern der Region ist rudimentär, stattdessen produziert man Image-Bildern und funktioniert wie eine Werbeagentur. Raum für Architekten? Die Architektur des 20. Jahrhunderts hat im Allgäu keinen leichten Stand - das zeigt nicht zuletzt der Umgang mit den wenigen Bauten von Welzenbacher, Vorhoelzer, Bonatz, Wechs. Lange herrscht routinierte Bewältigung vor. 1998 thematisiert das Rotis Forum regionale Typologie, 2001 wagen die Jungen einen Aufbruch - begleitet vom Staunen der Alten und Platzhirsch-Gehabe. Das architekturforum allgäu zielt auf Förderung der Baukultur, auch als Selbsthilfe in wirtschaftlich mageren Zeiten, großzügig gefördert durch eine Handvoll Unternehmen. Durch zähes Ringen - Ausstellungen, Vorträge, Publizistik - erarbeitet der Verein sich in 20 Jahren Anerkennung. Zunehmend verstehen Handwerksbetriebe gestiegene Qualitätsansprüche als Auftrag. Noch hängt zuviel am Einsatz Einzelner, etwa Franz G. Schröck, der dem Forum vorsteht. Heute zählt es rund fünf Dutzend Architekturbüros als Mitglieder, das sind 9000 Bewohner je Büro, Schwerpunkt Kempten. Man erfährt überregionale Aufmerksamkeit. Der Rat des Forum ist in den Städten heute gefragt, am Land dagegen bleibt's bei Selbstgefälligkeit; immerhin, so Schröck, „gibt's gute Beziehungen zu 10% der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister". Sehnsüchtig blickt er über die Grenze, wo Raumplanung als Beteiligung aller relevanten gesellschaftlichen Gruppen gelebt wird statt 'von oben herab' durchgeführt.

Ein Kollege von dort beschreibt den mentalen Unterschied so. „Der Allgäuer sagt: Wir wissen, was wir wollen - der Architekt hat zu dienen." Hierarchien werden gepflegt, kooperatives Handeln auf gleicher Augenhöhe fällt schwer, nicht zuletzt auf Seite der Behörden. Unnötig aufzurechnen, dass der Bregenzerwald bei der Kultur der Dinge, ob Haus, Lebensmittel, Gerät o.a. in einer anderen Liga spielt. Man weiß dort aber, dass dies gepflegt gehört - unzählige Veranstaltungen zur Lebensqualität zeigen es. Auch die Architektur bleibt in Bewegung; gerade derzeit zeigt sich Neues. Doch treibt das Bemühen nicht mitunter auch bedenkliche Blüten, etwa wenn jede Initiative sozialpädagogisch eingehegt wird? Dagegen ist das Allgäu noch robust. Der Einzelne steht für sich und - es werden mehr. Gut täte der Region, diese Kräfte zu bündeln und sich des herablassenden Etikettes 'Nische' zu entledigen.

(Dieser Essay von Florian Aicher entstand anlässlich der Ausstellung `Schön.hier Architektur auf dem Land' im Deutschen Architekturmuseum (DAM) Frankfurt 2022. Geplant ist, die Schau im kommenden Jahr ins Allgäu zu holen.)

April 2023