'Was eine|r nicht schafft, schaffen viele'
randnotiz 27

Datum
30.06.2020

Bürgergenossenschaft zur Rettung der 'Alten Schule' in Immenstadt-Bühl (Quelle: Freundeskreis Alte Schule)

So lautet das über 100 Jahre alte Motto zum genossenschaftlichen Bauen, das als Gegenbewegung zur kapitalistischen Bodenspekulation während der Hochzeit der Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts entstanden ist. Als ein gedanklicher Vorreiter kann der Engländer Ebenezer Howard bezeichnet werden, der mit seiner Schrift 'Garden Cities of Tomorrow' der GartenstadtBewegung den Boden bereitet hat und mit seinen Vorschlägen den genossenschaftlichen Ansatz ins Zentrum seiner Reformen rückte.

Erfolgsmodell Gartenstadt-Bewegung

Vor allem in Großstädten fielen Howards Gedanken seit Anfang des 20. Jahrhunderts und verstärkt ab den 20er Jahren auf fruchtbaren Boden. Mustergültige Siedlungen in Berlin, Wien oder Zürich entstanden, deren städtebauliche und freiräumliche Qualitäten bis in unsere Zeit hinein Bestand haben und die für bezahlbaren und gut gestalteten Wohnraum sorgen, der ungebrochen wertgeschätzt wird.

Die Genossenschaftsidee in Stadt und Land

Leider hat sich die Idee des genossenschaftlichen Bauens und Wohnens in ländlichen Räumen bis auf wenige Ausnahmen nie sonderlich verbreitet. Als rühmliche Ausnahme in unserer Region ist die Bau- und Siedlungsgenossenschaft Allgäu (BSG) zu nennen, die 1906 von 20 beherzten Kemptener Bürgern gegründet wurde. Auch sie machte es sich zur Aufgabe, die akute Wohnungsnot zu lindern und entwickelte seitdem Konzepte für sozial verträglichen und bezahlbaren Wohnraum. Über hundert Jahre später hat sich die BSG Allgäu zu einer der größten aller 330 Wohnungsgenossenschaften in Bayern entwickelt.

Das Westallgäu als Vorreiter in der Region

Im Zuge immer höher kletternder Immobilienpreise bei oftmals leider weniger Wohnqualität und nachhaltiger Materialisierung finden sich jedoch mittlerweile auch fernab der Metropolregionen erste zarte Pflänzchen einer Wiederbelebung der Genossenschafts-Idee beim Bauen. Einer der Vorreiter in unserer Region ist der Wangener Architekt Theo Keller, der derzeit auf dem dortigen Erba-Gelände im Zuge der Landesgartenschau 2024 eine ehemalige Arbeitersiedlung mit seinen Genossen in ein charmantes Wohnquartier verwandelt. Für Theo Keller ist dies auch eine Sache der Gerechtigkeit, weil damit Gentrifizierung und Mietwucher überwunden werden können. (vgl. Zeit 16/2013 'Baut, Genossen, baut!') Weitere erfolgreiche Genossenschaftsmodelle der Region finden sich vor allem im Westallgäu: Besonders zu erwähnen sind die Nachnutzung der ehemaligen Leutkircher Bahnstation als 'Bürgerbahnhof' (roterpunkt architekten) und die Ende letzten Jahres eröffnete 'GenussManufaktur' in Urlau (Architekturbüro Gegenbauer und roterpunkt architekten). Beides 'Kinder' des umtriebigen und vielfach ausgezeichneten GenossenschaftsAktivisten Christian Skrodzki, der es versteht, Begeisterung zu wecken und Mitmenschen zum Mitmachen zu motivieren. Er war es auch, der wesentlich dazu beitrug, dass sich ein Freundeskreis im Oberallgäu formierte, um mit einer Bürgergenossenschaft die denkmalgeschützte Alte Schule in Immenstadt-Bühl zu retten. Nach jahrelangen Bemühungen war es endlich im März diesen Jahres gelungen, das identitätsstiftende Gebäude vor dem Abriss zu bewahren. Damit dürfte ein weiteres Musterbeispiel genossenschaftlichen Bauens entstehen, das sicherlich allgäuweit austrahlen wird.

Grundzüge von Genossenschaften

Mitglied in Genossenschaften wird, wer mindestens einen Genossenschaftsanteil erwirbt. Jeder Genosse erhält bei Entscheidungen eine Stimme, unabhängig davon wie viele Anteile er erworben hat. Jeder Genosse kann nach einer gewissen Sperrfrist seine Anteile wieder zurückfordern. Häufig werden Überschüsse in Form von Dividenden ausbezahlt, es handelt sich in Zeiten der Niedrigzins-Politik der Banken auch also auch um eine sinnvolle Art der Geldanlage. Wenn die verfügbare Anzahl von Genossenschaftsanteilen ausgeschöpft ist, werden Interessenten auf eine Warteliste gesetzt und können nachrücken, wenn ein Mitglied seine Anteile zurückgibt. Bleibt zu hoffen, dass die Genossenschafts-Idee auch im Allgäu weiter um sich greift, weil Bürgerinnen und Bürger damit Ihr Lebensumfeld selbstbestimmt gestalten können. Mehr unter www.genossenschaftsverband.de

Juni 2020


Theo Keller, Initiator der Bürgergenossenschaft 'wohnen +'

Im Bau befindliches Projekt der Bürgergenossenschaft 'wohnen +' auf dem ehemaligen Erba-Areal in Wangen

Bürgerbahnhof Leutkirch, Fertigstellung 2012

Allgäuer GenussManufaktur in Urlau, 2019

'Genossenschafts-Aktivist' Christian Skrodzki

Bau- und Siedlungsgenossenschaft Allgäu: Historische Aufnahme anlässlich '110 Jahre Wohnen in der Duracher Strasse, St. Mang' (Quelle: BSG Allgäu)