Wer dieser Tage einen Blick in die Kunsthalle Kempten geworfen hat, dem ist sicherlich eine besondere Installation ins Auge gefallen: ein halboffenes Geviert bestehend aus alten Blechregalen und Registraturkästen, bestückt neben typischen Büroutensilien wie Schreibmaschine, Stadtplan und Papierberg im Format A4, sowie mit gleichartigen Archivboxen aus grauem Karton – dazwischen Schreibtische und Stühle, das sogenannte `Büro für urbane Visionen`. In diesem Büro suchen während der Öffnungszeiten Schülerinnen und Schüler das Gespräch mit den Besuchern und präsentieren die Inhalte Ihrer Archivboxen, vierzehn an der Zahl. Eine überraschende und innovative Art, künstlerische Arbeit allen Bevölkerungsschichten direkt zu vermitteln. Ein großes Lob den Teilnehmern des P-Seminar `Lost Traces`, das die vergangenen Monate am Allgäu-Gymnasium von Kunsterzieher Mathias Schuh angeboten und betreut wurde.
`Lost Traces` ist eine bundesweite Aktion unter Schirmherrschaft des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz (DNK) im laufenden Europäischen Kulturerbejahr 2018. Ziel ist es, `unser gemeinsames kulturelles Erbe und dessen Potential für Identifikation, Teilhabe und Entwicklung miteinander zu teilen, im Licht einer heterogenen europäischen Gesellschaftsstruktur und vor dem Hintergrund aktueller politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Herausforderungen`, so zu lesen im Konzeptpapier des DNK. Dabei wird dem baulichen Erbe eine besondere Rolle zugeschrieben, bietet Baukultur doch optimale Anknüpfungspunkte für die aktive Auseinandersetzung mit Geschichte und für die Weiterentwicklung in eine gemeinsame europäische Zukunft.
In diesem Sinne haben sich die Schülerinnen und Schüler des P-Seminars am Allgäu-Gymnasium historische Orte in Kempten und Umgebung ausgeguckt, diese umfassend analysiert und versucht deren Potentiale für eine zukünftige Nutzung auszuloten. Begleitet wurde dieser Prozess auch von der Landesarbeitsgemeinschaft Architektur und Schule Bayern und vom architekturforum allgäu. Sowohl Auswahl als auch Bearbeitung der besonderen Orte kann als sehr gelungen erachtet werden. Einige Beispiele:
Das leerstehende Weidachschlössle aus dem 16. Jahrhundert an der Rottachstraße versucht Jaqueline Brönhorst buchstäblich wieder ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Mit Projektionen von Kemptener Fassadenmalereien des langjährigen Schlössle-Bewohners Franz Weiß auf das leerstehende Gebäude wird ein Spannungsbogen aufgebaut zum vielschichtigen Werk des Künstlers.
Nadine Siegert ist auf die vergessenen Munitionsbunker am Schießplatz Riederau gestoßen und schlägt vor, die große Anzahl von hügelartig angeschütteten Ein-Räumen als oberbelichtete Studentenwohnungen auszubauen – inklusive ehemalige Bunkerräume, die für gemeinschaftliche Zwecke genutzt werden.
Zur nationalsozialistischen Vergangenheit der Tierzuchthalle recherchiert hat Sabrina Genkel und ist dabei im Stadtarchiv auf Zeichnungen eines ehemaligen französischen Häftlings gestoßen. Sie wünscht sich zumindest vor dem Haupteingang statt Automobil-Blech einen Bereich mit Aufenthaltsqualität und ortsbezogener Erinnerungskultur.
Beim Kriegerdenkmal auf dem Haubenschloß wagt Kimberly Kretschmer eine zeitgenössische Umgestaltung in Form eines liegenden Peace-Zeichens, das auch als Sitzmöglichkeit dient. Darüber hinaus bietet sie Besuchern der Ausstellung an, mit Hilfe eines Baukasten-Systems das Denkmal selbst im Modell umzugestalten, zu fotografieren und an sie zu Dokumentationszwecken zu mailen. Ein interaktiver Ansatz, den auch einige andere Schüler aus der Gruppe mit anderen Konzepten verfolgen.
Die besondere Atmosphäre der alten Fabriken an der Iller hat Kim Thin aufgegriffen und mit Minimaleingriffen Teile des ehemaligen Gusswerkes Waltenhofen als Kreativ-Quartier vorgeschlagen – eine Nutzung, die man sich bei vielen anderen historischen Gewerbebauten am Flussufer gewünscht hätte.
Das stiefmütterliche Dasein des Anna Schwegelin - Brunnen vor der Residenz beenden möchte Elisabeth Schmid mit einer beigestellten Menschenfigur aus Bronze, die an die letzte in Deutschland verurteilte Hexe erinnert.
Auch das `Großes Loch` am Alten Bahnhof war Thema bei der Auseinandersetzung mit Unorten in der Stadt. Leonora Bytyki schlägt in den gebauten Tiefgaragen - Geschossen ein `Kempten Dungeon` vor, eine temporäre Nutzung, die sich in Großstädten ziemlicher Beleibtheit bei jungen Leuten erfreut: schwarz getünchte Horrorkabinette, in denen auch Schauspieler agieren, lassen einen mit den dargestellten Taten aus römischer, mittelalterlicher und nationalsozialistischer Zeit erschauern.
Katharina Eichler hat sich einen besonderen Ort außerhalb von Kempten ausgesucht: Das ehemalige Gasthaus `Löwen` in Oy, das nach dem unverständlichen Ergebnis eines Bürgerentscheids nunmehr abgerissen wird – wobei es ein leichtes gewesen wäre, diesen kulturhistorisch bedeutsamen Bau zu erhalten und als Rathaus umzubauen. Die Schülerin begibt sich auf Spurensuche im Detail und macht den Architekten Ándor Akos ebenso zum Thema wie übrigens die Montessori – Schule Kempten mit einer Projektwoche zu dessen Werk im Juli.
Den Fokus auf einen neuartigen Umgang mit der Vermittlung unserer gebauten Geschichte legten zum Beispiel Maximilian Gräf, der die Kemptener Basilika einer jungen Generation per Videospiel (Minecraft) näherbringen wollte und Patrick Zarbach, der die König-Ludwig-Brücke als Museumsbrücke mit einem Architekturprogramm am Computer animierte und visualisierte. Benjamin Holas zeichnete einen Comic im Manga-Stil, der unsere jungen Gäste ins antike Cambodunum entführt und Adriana Rebeles überraschte die jungen Besucher mit vier poppigen Fantasiewesen (den Brunnenfiguren vom Sankt Mang Platz), die in Siebdrucktechnik auf T-Shirts gedruckt, Teil ihrer Marketing-Strategie für Kempten sind. Abschließend seien noch hervorgehoben die Arbeiten von Matthias Sänger, der mit einem Papiermodell das ehemalige Klostertor abgebildet und mit einem eigenen Nutzungskonzept neu belebt hat sowie von Simon Fleschutz, der sich dem Blutsäulenmotiv der Wallfahrtskirche in Heiligkreuz auseinandergesetzte.
Insgesamt kann sich das Projekt der Schülerinnen und Schüler sehr gut neben den Arbeiten der Profi – Künstler zum öffentlichen Raum in der zeitgleich gezeigten Schau `Cambo Arte` behaupten, auch deswegen hätte das `Büro für urbane Visionen`eigentlich ins Zentrum der Kunsthalle gerückt werden müssen. Für alle, die diese wegweisende Ausstellung heranwachsender Menschen versäumt haben, ist derzeit am Allgäu-Gymnasium eine Publikation in Arbeit, die die Beiträge der Schülerinnen und Schüler zusammenfasst und der man eine entsprechend große Resonanz wünscht!
Das Büro für urbane Visionen stand für zwei Wochen allen Interessierten in der Kunsthalle Kempten offen