Künstlerhaus - ein urbaner Ort
randnotiz 01

Datum
01.06.2012

Eine Auseinandersetzung mit derm Phänomen "Künstlerhaus" kann sich nicht auf die Bewertung der städtebaulichen Situation oder die Frage nach der architektonischen Qualität des Objekts beschränken. Stattdessen treten kulturell-gesellschaftliche Fragestellungen in den Vordergrund. Konkret: Was ist Urbanität? Wollen wir das überhaupt? Und können wir uns das leisten?

Spekulationsobjekt oder gesellschaftliches Kapital An der Kreuzung Beethovenstraße / Fischerstraße ist derzeit viel in Bewegung: Abrissbagger und Baustellenverkehr, Straßensperrungen, Baustellenzäune und große Neueröffnungen. Seit einigen Wochen ist eine Konsolidierung absehbar und der Fokus des öffentlichen Interesses verlegt sich mehr und mehr auf das Künstlerhaus. Investoren interessieren sich für die Liegenschaft und kalkulieren einen Neubau in bester Lage mit guten Mietrenditen. Die Stadtverwaltung kann sich wohl vorstellen, das Objekt zu veräußern und damit die öffentlichen Kassen zu entlasten.

Städtische Atmosphäre gewollt? Städtische Atmosphäre gewollt! Hiergegen formiert sich von verschiedenen Seiten Widerstand: die derzeitigen Künstlerhaus-Pächter sammeln Unterschriften, die facebook-Gemeinschaft „Pro-Künstlerhaus-Kempten“ gefällt fast 2.000 Personen, laut einer Umfrage der Allgäuer Zeitung wünschen sich viele Leser: „sanieren und Künstlercafé weiter betreiben“. Dabei bezieht sich kaum ein Kommentar auf das Gebäude an und für sich: weder auf Dachform oder Fassadengliederung noch auf die Geschichte des Gebäudes vor der jetzigen Nutzung. Den Menschen, die das Künstlerhaus erhalten wollen, geht es nicht um Qualitäten des Objekts an sich, sondern um die Atmosphäre, die an diesem Ort herrscht: eine Stimmung, die mit Fug und Recht als urban bezeichnet werden kann. Der bekannte Stadtplaner Thomas Sieverts beschreibt Urbanität als „eine besondere Qualität der aufgeklärten, bürgerlichen Stadt“. In ihr drücke sich „eine tolerante, weltoffene Haltung ihrer Bewohner zueinander und dem Fremden gegenüber“ aus, eine Atmosphäre „der geistigen Beweglichkeit und Neugier“. Urbanität in diesem Sinne kann man nicht einfach „machen“. Ganz im Gegenteil: eine urbane Atmosphäre kann eher dort entstehen, wo Dinge offen gelassen werden. Genau so wurde das Künstlerhaus zu dem was es heute ist: angelegt als „temporäre Nutzung“ bis die großen Immobilien rundherum wieder funktionieren und in aller Ruhe ein Projekt entwickelt werden kann. Diesem möglichen zukünftigen Projekt erwuchs aus dem Nichts ein starker Widerpart. Für viele Kemptener drückt das Treiben rund um das Künstlerhaus das aus, was sie sich unter städtischem Leben vorstellen. Und die Aussicht auf eine weitere Einzelhandelsimmobilie bekommt plötzlich einen schalen Beigeschmack.

Bewegliche Offenheit in Struktur bringen Die Frage, ob dieser Ort und seine Atmosphäre eine Zukunft haben, hängt weniger von der Qualität der baulichen Substanz ab, als vielmehr von der Organisation der zukünftigen Bespielung. Sozio-kulturelles Tun benötigt ab einem gewissen Komplexitätsgrad Struktur. Diese Struktur ist wichtiger als die Architektur. Sie hat die permanente Gratwanderung zwischen Anarchie und Erstarrung, Offenheit und Beliebigkeit zu meistern. Als Bürgerinnen und Bürger, Bewohner, Flaneure und Café-Liebhaber wünschen wir uns, dass das Künstlerhaus weiter bestehen bleibt, dass nur die dringendsten Sanierungsmaßnahmen durchgeführt werden und eine tragfähige Struktur für die Bespielung der Räumlichkeiten geschaffen wird. Als architekturforum unterstützen wir einen solchen Prozess ideell.

Kempten, November 2011